Kirche und Nation in Ostmitteleuropa im 19. Jahrhundert (1848-1914)

Kirche und Nation in Ostmitteleuropa im 19. Jahrhundert (1848-1914)

Organizer(s)
Nordostinstitut an der Universität Hamburg (IKGN)
Location
Lüneburg
Country
Germany
From - Until
26.10.2006 - 28.10.2006
Conf. Website
By
Juliane Brandt

Das Konzept der Tagung stammte von Prof. Dr. Ralph Schattkowsky (Rostock/ Toruń), der damit Ergebnisse eines VW-Projektes zur Rolle von Kirche und Religion bei der Gestaltung gesellschaftlicher Entwicklungen zwischen Revolution und Erstem Weltkrieg vorstellte. Das IKGN verwendete seine Jahrestagung zur Diskussion dieses Themas. Die Teilnehmer aus Deutschland, Polen, Litauen, Lettland, Estland, der Ukraine und Russland, die sowohl den Bereich der allgemeinen Geschichte als auch die Sozial-, die Kirchengeschichte und die Theologie vertraten, stellten ihre Thesen zu einschlägigen Entwicklungen im Baltikum, in Polen, der Ukraine, Galizien und der Bukowina sowie ausblickartig in Russland vor.

Nach der Eröffnung der Tagung durch den Direktor des gastgebenden Instituts, Dr. Andreas Lawaty, skizzierte Ralph Schattkowsky einleitend die höchst komplexen und ambitionierten Ausgangspunkte seines Projekts, aus denen sich die zentralen Fragen der Tagung nach dem Verhältnis von Religion, Kirche und Nation bzw. Nationalbewegungen und Staat ableiteten.

Ein Überblick von Katharina Kunter (Karlsruhe) über Fragen und neuere Forschungstendenzen der Kirchengeschichte bzw. sozialgeschichtlicher Religionsforschung aus theologischer Sicht führte Gemeinsamkeiten und Differenzen in Fragestellungen und Forschungspraktiken vor Augen und verdeutlichte die Spezifik theologisch geleiteten Fragens nach Zusammenhängen in jenem säkularen Prozess.

Ein erstes Panel erörterte Fragen von Kirche und Nation in den ukrainischen Territorien. Bernadette Wójtowicz (Warschau) referierte über die bekannten zentralen Punkte in der Entwicklung der griechisch-katholischen Kirche in Galizien zu einer möglichen ukrainischen Nationalkirche.

Sergij Osatschuks (Czernowitz/ Černivči) Beitrag über die Bukowina führte demgegenüber die Komplexität der Zusammenhänge und die Varianten von Gestaltungsmöglichkeiten vor, unter denen die – hier mehrheitlich griechisch-orthodoxe - ukrainische Nationalbewegung des Kronlandes die „kirchliche Frage“ zu lösen anging. Einen wichtigen Aspekt des Referats bildete ein verbreitetes „ethnisches Doppelbewusstsein“ bei zahlreichen in gemischten Siedlungen und Mischehen lebenden Ukrainern und Rumänen, das gerade die Priester in die eine oder anderer nationale Richtung zu lenken versuchten.

Mariana Hausleitner (München) analysierte, wie der griechisch-orientalische Religionsfonds, welcher von der habsburgischen Verwaltung mit Hilfe von enteignetem Klosterbesitz geschaffen worden war, in der Bukowina von der rumänischen Kirchenführung zu Wahrung „nationaler“ Anliegen und insbesondere machtpolitischer Interessen einer orthodoxen rumänischen Kirchenelite instrumentalisiert wurde.

Ein zweites Panel war der orthodoxen Kirche und Nation an der westlichen Peripherie Russlands gewidmet. In der von Ricarda Vulpius (Berlin) untersuchten Ukraine war zwar ein – den galizischen Verhältnissen grundsätzlich vergleichbares – Ringen zwischen „russifizierender“ und „ukrainisierender“ Richtung innerhalb der orthodoxen Kirche zu beobachten. Angesichts der Wirkung des konfessionellen Feindbildes sowie des Mythos von der Schutzmacht Russland hatte die russophile Richtung jedoch die Oberhand. Die Besetzung der wichtigen Ämter durch Russen, so Vulpius´ These, spielte in ihrer Wirkung demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle.

Gvido Straube (Riga) untersuchte die Kirchenpolitik und die Russifizierung bzw. dieser entgegenwirkende Nationalisierungsprozesse im Baltikum, insbesondere in Lettland. Er stellte insbesondere die Wirkung der Herrnhuter auf die lettische evangelische Bevölkerung heraus, welche die Abgrenzung von der durch die Deutschen dominierten Mehrheitskirche neben nationalen Gesichtspunkten auch spirituell förderte.

Ilja Dawydow (Tallin) verfolgte, wie die orthodoxe Kirche in Estland nach 1880 in dem von ihr ursprünglich kaum durchdrungenen Baltikum versuchte, Esten zur Konversion zu bewegen bzw. deren – amtlich vollzogene oder zumindest seelsorgerisch wahrgenommene faktische – Rekonversion in die evangelische Kirche zu verhindern. Als Motivation für diese Handlungen nannte er die Stabilisierung des russischen Herrschaftskontextes sowie das Interesse an kirchlichem Raumgreifen in dem ursprünglich kaum von der Orthodoxie geprägten Gebiet.

Der Beitrag von Olga Litzenberger (Saratow) befasste sich mit der Gesamtheit der Deutschen im Russischen Reich und der Frage, wie sich in dieser zu 65% aus Lutheranern; jedoch auch aus Katholiken, Mennoniten und Baptisten bestehenden Gruppe konfessionelle und nationale Identität wechselseitig beeinflussen. Die Referentin unternahm auch einen instruktiven Ausblick auf die Verhältnisse nach 1945 bzw. seit dem Zerfall der Sowjetunion. Theodore Weeks (Carbondale/ Illinois) wies in seinem Kommentar zudem auf die zu leicht vernachlässigte Wirkung staatlicher Zentralisierung im Russland des späten 19. Jahrhunderts als Faktor in peripetalen Nationalisierungsprozessen wie im Agieren der Kirchen hin. Vor dem Hintergrund politischer Penetrationsprozesse wiederum gewinne auch der Begriff der „Russifizierung“ weitaus komplexere Bedeutung. Die dadurch angestoßene Diskussion ging dann auch genauer auf die Interessenlagen lokaler Akteure der untersuchten Konflikte ein, die eben nicht nur in dem vom Staat geprägten Spannungsfeld tätig wurden.

Ein anschließendes Panel thematisierte Kirche und Nation in den polnischen Territorien. Hier stellte Oleg Turij (Lemberg/L´viv) seine Beobachtungen zur Nationalisierung des Ritus bei den Unierten in Galizien vor. Besonders aufschlussreich war, wie die zahlenmäßig kleine griechisch-katholische Gemeinschaft in der Ukraine in Konfliktlagen situationsabhängig entweder ihre Herkunft aus der Orthodoxie oder aber ihre Zugehörigkeit zum Katholizismus hervorheben konnte, was allerdings auch das Nebeneinander widerstreitender Tendenzen innerhalb der Kirche förderte.

Marek Chamot (Toruń) untersuchte „nationales Engagement als nationale Äußerung“ anhand der Stellungnahme der polnischen katholischen Kirche zur sozialen Frage am Ende des 19. Jahrhunderts. Er zeigte, wie sich nach dem Scheitern der Aussicht auf Unabhängigkeit soziales Engagement in das Konzept „organischer Arbeit“ der polnischen Nationalbewegung eingliederte und stellte einzelne Denker dieser Richtung vor.

Przemysław Matusik (Posen/ Poznań) verfolgte die Debatten im Posener Katholizismus in der Zeitspanne vom Mischehenstreit bis zum Kulturkampf. Für den Katholizismus stellte der Liberalismus des 19. Jahrhundert einen Gegner dar, der ihm noch gefährlicher als der Protestantismus schien, was auch das Verhältnis zur nationalpolnischen Bewegung prägte, die zunächst ebenfalls Ideen des Liberalismus folgte.

Magdalena Niedzielska (Toruń) bezog den gesamten Katholizismus Preußens in ihre Betrachtungen ein und analysierte dessen Verortung zwischen Staat und Nation, um dann anhand von Beispielen aus den östlichen Provinzen Preußens die Interessenlagen und Stellungnahmen von Kirchenführung und Pfarrern angesichts der lokalen Konfliktlagen zu diskutieren.

Andreas Lawatys Kommentar zu diesen Beiträgen stieß eine lebendige Diskussion an. Als weiterführend erwies sich vor allem Rex Rexhäusers Anregung, das 19. Jahrhundert, in dem Nationalisten wie ihre Gegner Zuschreibungen trafen (Pole gleich Katholik), die das 17. schon einmal vorgenommen hatte, auf diejenigen Konstellationen hin zu untersuchen, in denen sich sozialstrukturelle wie konfliktanalytische Unterschiede zeigten. Diese wären dann geeignet, um die Eigenart konfessioneller wie staatsbezogener und nationaler Identitätsbildung im 19. Jahrhundert genauer zu erfassen.

An die Überlegungen dieses Panels und des vorigen schlossen sich auch die Beiträge vom Samstag zur „östlichen Peripherie Deutschlands“ an. Ulrike von Hirschhausen (Hamburg) überprüfte die These einer „zweiten Konfessionalisierung“[1] im 19. Jahrhundert am Fall des Baltikums und kam zu dem Schluss, dass die These angesichts der zunehmenden ethnischen Segmentierung der Gesellschaft nicht zu belegen sei. Die konstatierbare rigide Konfessionalisierung in der evangelischen Kirche beschränke sich auf das zahlenmäßig kleine Milieu, während die Nationalbewegungen von Letten, Esten und Litauern zeitgleich auf eine Nationalisierung evangelischer Volkskirchen hinarbeiteten.

Olgierd Kiec (Zielona Góra) plädierte dagegen mit Blick auf die von ihm erforschten evangelischen Gebiete im Osten Preußens für die These einer zweiten Konfessionalisierung: Die evangelische Kirche unternahm dort zur Durchsetzung theologischer Inhalte wie zur Stabilisierung ihrer Mitgliedschaft Anstrengungen zur Ausbildung eines stärker ausgebildeten konfessionellen Bewusstseins, das nationalkulturelle Komponenten einschloss. Einflüsse des Pietismus und der Gemeinschaftsbewegung verstärkten diese Tendenz. Voraussetzung für dieses nur scheinbar den Beobachtungen zum Baltikum widersprechende Ergebnis war unter anderem, dass die Sprachgrenze in diesem Falle weitgehend auch eine Konfessionsgrenze war.

Stephan Scholz (Hamburg) untersuchte die Haltung des deutschen Katholizismus zur polnischen Frage zwischen Revolution und Reichsgründung. Die konservative politische Identität des Katholizismus ebenso wie die Ablehnung der Russifizierungs- bzw. Germanisierungspolitik im geteilten Polen kamen einer positiven Sicht polnischer Bestrebungen entgegen. Allerdings ließen sich auch Anzeichen einer Verunsicherung oder Kritik angesichts der Vermischung nationalpolitischer und konfessioneller Interessen nicht übersehen. Hans-Jürgen Bömelburgs forderte in einem Kommentar insbesondere eine genauere Untersuchung der in diesen Konflikten und Debatten wirksam werdenden Kommunikationszusammenhänge und ihrer Veränderungen im späten 19. Jahrhundert.

Ein letztes Panel fragte nach Religion, Nation und Kultur in den jüdischen Gemeinschaften Ostmitteleuropas. François Guesnet (Potsdam) erläuterte zunächst die Strukturen religiösen und gemeindlichen Lebens in einer nicht nach dem Muster christlicher Kirchen verfassten Lebenswelt. Dann diskutierte er Optionen der Identitätsbestimmung und schließlich eingeschlagene Wege inmitten sozialer Lagen, politischer Herausforderungen und religiöser bzw. kultureller Dynamiken. Als Ergebnis dieses Prozesses sah er die Entstehung eines komplexen institutionellen Gefüges einer „jüdischen Polis“ entstehen, die zum Ende des langen 19. Jahrhunderts aus dem nun „weitgehend abgeschlossenen Prozess der politischen Segregation einer religiösen Minderheit“ hervorging.

Theodore Weeks beleuchtete die Außensicht auf diesen Prozess anhand der Beziehung von polnischem Katholizismus und modernem Antisemitismus 1860-1914. Der Kommentar von Gertrud Pickhan (Berlin) konfrontierte die Referenten gleichsam mit einem ganzen neuen Forschungsprogramm hinsichtlich der Verortung der jüdischen Gemeinschaften in den Prozessen von sozialem Wandel und nation-building in Ostmitteleuropa.

Die von Ralph Schattkowsky zunächst sehr breit aufgeworfene Frage nach der Rolle des Religiösen im gesellschaftlichen Umbruch des 19. Jahrhunderts müsste grundsätzlich auch die theologische Reflexion dieses Prozesses selbst wie das Gesellschaftsdenken der Kirchenführungen und ihre Praxis sozialpolitischen Agierens sowie lebensleitender Anweisungen einbeziehen. Die Tagung konzentrierte sich demgegenüber weitgehend auf Implikationen des nation-buildings des 19. Jahrhunderts. Dies wurde nicht näher begründet [2], war aber mit Blick auf das multiethnische und von einer Vielzahl von Kirchen und Religionsgemeinschaften bevölkerte Ostmitteleuropa, in dem sich dies als ein besonders konfliktreiches Feld des eingangs skizzierten Gesamtprozesses erwies, durchaus produktiv. Verschenkt blieb damit jedoch die Möglichkeit, das auf der Tagung vorangig thematisierte Problemfeld von Kirchen und nation-building, von Modernisierung der Politik, Ausbau des Verwaltungs- und Verfassungsstaats usf. in einem komplexeren Rahmen genauer zu verorten. Ausgeblendet blieben die Bezüge zu zu zu religiöser Praxis wie konfessioneller Identitätsfindung, zu staatstragendem Nationalismus wie konkurrierenden Nationsmodellen in einer Religiöses verändert deutenden und sich strukturell massiv verändernden Gesellschaft mit neuen Mustern sozialer Ungleichheit. An einigen Beiträgen entzündeten sich Diskussionen, vor allem wegen einer fehlenden weiteren begrifflichen Differenzierung und detaillierteren Untersuchung der betrachteten Zusammenhänge bzw. einer ausgebliebenen eingehenderen Berücksichtigung der Foschungsliteratur. Mitunter wäre die breitere Berücksichtigung auch anderer Dimensionen von Gesellschaftlichkeit neben konfessionellen und nationalen Koordinaten sinnvoll gewesen. Die sehr erhellenden Beiträge weiterer hinzugezogener Referenten verdeutlichten aber auch den grundsätzlichen Forschungsbedarf, der, nicht zuletzt auch aufgrund eines Abbruchs kirchengeschichtlicher Forschungstraditionen in den untersuchten Ländern und der lange bestehenden Schwierigkeiten des Archivzugangs, noch immer besteht. Nicht zuletzt die rege Diskussion um das Problem einer quellengesättigten wie begrifflich angemessenen Integration der jüdischen Geschichte in dem untersuchten Zusammenhang führte dies deutlich vor Augen. Insgesamt spiegelten die Referate stark die jeweiligen disziplinären Ansätze und lokalen Forschungstraditionen der Teilnehmer, was zwar interdisziplinäres Lernen in Gang setzte, der Systematisierung von Ergebnissen angesichts der Fülle der eingangs aufgeworfenen Fragen aber nicht immer dienlich war. Zu hoffen ist, dass die Anstöße aus den Diskussionen aufgegriffen werden und die Beiträge sich damit in dem vom Organisator anvisierten Band zu einem deutlicher gezeichneten Ganzen zusammenfügen.


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